Disruptiver Change: Leadership und organisationale Resilienz

Ein Essay von Dr. Martina Rummel zur Führung im Disruptiven Change

Die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung ist eine Herausforderung für alle, besonders für Führungskräfte. In nahezu allen Bereichen erleben wir das, was man «disruptiven Change» nennt – eine Veränderungsanforderung, die plötzlich und aus unerwarteter Richtung kommt. Viele haben angesichts des Klimawandels mit veränderten Temperaturen, Unwettern, Bränden gerechnet – und auch mit strikteren Auflagen für die eigene Ökobalance. Aber Viren? Vorschriften für das soziale Miteinander? Quarantäne? Der Ausschluss von Präsenz? Abstand halten?

In manchen Branchen hat dies zu existenziellen Problemen und Umsatzeinbrüchen geführt, die ein schnelles Umdenken erfordern. Die plötzliche Existenzbedrohung für viele Organisationen kann nur begrenzt abgepuffert werden. Nicht überall führt dies ins Aus, aber veränderte Geschäftsmodelle, veränderte Arbeitsprozesse, völlig andere Modelle der Zusammenarbeit und das Forcieren digitaler Lösungen sind an der Tagesordnung.

Krise und Führung

In Krisen verlangen Menschen verstärkt nach Führung – und leider häufig auch direkt nach «Führern», nach Elternfiguren, die der eigenen Ohnmacht die Aussicht auf Schutz und Rettung entgegensetzen.
Das beinhaltet das hohe Risiko, in autoritäre oder mindestens zentralistische Muster zurückzukippen – auf allen Seiten: Die «geführten» Bürger und Mitarbeitenden delegieren Eigenverantwortung zurück an die Führung, stellen unrealistische Forderungen nach Schutz und Sicherheit, schotten sich gegen vermeintliche Feinde ab oder denunzieren sie – bisweilen werden auch Nischen ausgereizt zugunsten des persönlichen Vorteils. Für Führungskräfte entsteht die Versuchung, aus den Projektionen der anderen Machtansprüche abzuleiten, die zu Alleingängen und problematischer Besserwisserei führen.

Die Funktion von Führung

In der Politik wird uns der Unterschied zwischen ruhigem, besonnenem Agieren zugunsten der Allgemeinheit und Hysterie oder gar gefährlicher Großmannssucht anschaulich vorgeführt. Führung ist eine Funktion im System: Es geht darum, Orientierung und Richtung zu schaffen, Leitplanken zu setzen, die das Handeln kanalisieren, und Ressourcen zu mobilisieren. Dies setzt nicht überall direktes Führen durch Personen voraus, wohl aber, dass Ausrichtung und Leitplanken durch geeignete Regeln und ihre Umsetzung gewährleistet und Stützprozesse organisiert werden. Überlebensrelevant ist dabei immer die Anpassung an die Systemumwelt. Es geht also darum, Anforderungen von außen nach innen zu «übersetzen» und zu verstehen, welche Kriterien dafür maßgeblich sind. Dass der relevante Input hierfür aus der Chefetage kommen muss, ist eines der verbreitetsten Missverständnisse zum Thema Hierarchie. Der tiefe Sinn von Hierarchie besteht darin, den wirklich überlebensrelevanten Perspektiven zur Artikulation zu verhelfen und dabei konsequent die Gemeinschaftsperspektive zu besetzen und zu vertreten – auch gegenüber dem Einzelnen, damit nicht gemeinschaftsschädigendes Verhalten zugunsten individueller Interessen überhandnimmt. Die Versuchung, sich «an der Kasse zu bedienen», ist nie größer als in der Krise. Das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft bedarf daher besonderer Aufmerksamkeit. Das gilt auch für Führungspersonen – denn wer Macht hat, ist geneigt, diese zum eigenen Vorteil zu nutzen. Gutes Führen folgt den relevanten Salutogenese-Kriterien – in normalen Zeiten genauso wie in Krisen: Sinnvermittlung und Orientierung, soziale Unterstützung und Gemeinschaftssicherung, Dialog und Handlungsspielraum, Machbarkeit, gesunde Regeln und Angebote sowie Verstehbarkeit durch gute Information. Schlechte Organisation, fehlende Rückendeckung, Gängelung, Misstrauen, Panik und Entzug sozialer Unterstützung wären das Kontrastprogramm. In disruptiven Veränderungen bedürfen die Kriterien gesunden und guten Führens der Ausgestaltung mit neuen Inhalten.

Die Bedeutung von Sinn und Orientierung

Wozu? Was genau? Sinnvermittlung und Orientierung erleichtern Veränderung, weil sie der Mobilisierung von Ressourcen und Initiative Richtung verleihen. In disruptiven Veränderungsprozessen ist oft keine beruhigende inhaltliche Ausrichtung möglich, weil unklar ist, wohin die Reise geht. Überlebenssicherung rückt in den Vordergrund. Worauf kommt es dabei an? Welche Perspektiven sind für die erforderliche Neuanpassung an das «Außen», die Systemumwelt, überlebensrelevant – und wie kann dies in das «Innen» der Organisation übersetzt werden? Wie können Gemeinschaftsanliegen mit individuellen Interessen integriert und balanciert werden? Krisengewinnler sind dies immer auf Kosten anderer – insgesamt, sowohl für die Gesellschaft als auch für eine Organisation, rücken jedoch Erhaltungsziele gegenüber Maximierungsstrategien in den Vordergrund. Die Kunst, den Worst Case im Auge zu behalten und ihn so zu kommunizieren, dass Dringlichkeit erzeugt wird, ohne Panik zu verbreiten, beherrschen manche Führungskräfte nicht intuitiv. Sie «unken» oder aber verwechseln Ermutigung und Zuversicht mit falschem Optimismus. Trügerische Sicherheiten und hohle Versprechungen führen aber schnell zu Enttäuschung und Frustration. Der für Resilienz und Überlebenssicherung wichtige «Schuss Pessimismus» legt eher nahe, mit Best-Case-/Worst-Case-Szenarien zu arbeiten und für Situationen eine Roadmap zu entwickeln, die im Zweifel sofortiges flexibles Umschalten ermöglicht.

« Wenn Führungskräfte die Zumutungen nicht würdigen und kompensieren,
sondern mit moralischen Appellen und Kritik um sich werfen, erzeugen sie mehr Widerstand als nötig. »

Soziale Unterstützung, Verantwortung und Gemeinschaftssicherung

Die Legitimität von Zumutungen und Regeln für die Ausnahmesituation ist dabei eine wichtige Grundlage und bedarf intensiver Kommunikation und einer Erhöhung der Kontaktfrequenz. In Krisen werden Kritik und Grabenkämpfe schnell gefährlich. Regeln, die dem Schutz der Allgemeinheit dienen, sollten daher sorgfältig begründet und rational sein. Irrationale Auflagen und überzogene Maßnahmen lösen enorme Reaktanz aus und führen schnell zu Entsolidarisierung und subversivem Handeln. Das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, ist ebenfalls sehr schnell da, wenn Nachteile für Einzelne entstehen. Wenn Führungskräfte die mit legitimen Auflagen verbundenen Zumutungen nicht würdigen und kompensieren, wo möglich, sondern mit moralischen Appellen und Kritik um sich werfen, erzeugen sie hausgemacht mehr Widerstand als nötig.

Dialog und Handlungsspielraum

Überregulierung am falschen Punkt führt nicht nur zu völlig irrationaler Energieverschwendung nach dem Motto «Wir machen ja was», sondern vor allem zu Verantwortungslosigkeit. Stupide Regelanwendung gewinnt Vorrang vor der Sicherung des Anliegens selbst. Es ist deshalb entscheidend, den Kern und die Funktion von Aktionen und Regelungen zu kommunizieren. Den Sinn einer Anforderung zu begreifen, ermöglicht eine flexiblere Wahrnehmung von Eigenverantwortung. Diese Form von «Intention»-Management ist besonders wichtig, wo sich der Sinn von Maßnahmen nicht automatisch erschließt. Nicht jeder kann in jeder Situation alles durchschauen. Zugleich müssen gemeinschaftsschädigende Aktionen konsequent sanktioniert werden, um eine Verschlimmerung der Lage zu vermeiden.

In Krisen rächt es sich bitter, wenn das Vertrauen in die Führung ohnehin schon eingeschränkt ist oder umgekehrt das Vertrauen in die Selbstregulierung der Subsysteme bis hin zu den Mitarbeitenden fehlt. Vertrauen ist eine komplexe Zuschreibung, die nicht nur die Integrität der handelnden Personen betrifft, sondern auch eine Kompetenzvermutung beinhaltet. Experten in Entscheidungen einzubeziehen und sich (sichtbar!) beraten zu lassen, stärkt in Krisen die Akzeptanz von Entscheidungen, solange das Heft nicht aus der Hand gegeben und der Eindruck erweckt wird, dass die Berater entscheiden. Die Verantwortung von Führung besteht darin, überlebensrelevanten Perspektiven zum Durchbruch zu verhelfen. Die typisch narzisstische Anmaßung, sich selbst den vollumfänglichen Durchblick zuzuschreiben und einen militärischen Gestus in die Angelegenheit zu bringen, kann zwar für den Moment einen Placeboeffekt auslösen, wenn die Geführten entsprechend unmündig sind. Nicht zum ersten Mal könnte das aber eine Gefolgschaft mit in den Abgrund reißen, wenn die Berater unqualifiziert oder die Entscheider beratungsresistent sind.

« Partizipation ist Präzisionsarbeit – oft sind es die Mitarbeitenden, die relevante Perspektiven besetzen. »

Dass im Sturm nur der Kapitän das Sagen hat, wird häufig als Argument gegen Partizipation und Mobilisierung von Eigenverantwortung missbraucht. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass Ansagen im Sturm in erster Linie der Koordination dienen, aber ins Aus führen, wenn die Richtung nicht stimmt. Ausrichtung erfordert Partizipation. Aber wozu wird wer woran in welcher Form beteiligt? Wenn alle überall mitreden, wird nicht nur die Richtung diffus, man verliert auch Geschwindigkeit und stiftet Verwirrung. Partizipation ist Präzisionsarbeit – und oft sind es die Mitarbeitenden, die relevante Perspektiven besetzen. Sie können Entscheider beraten, wenn sie Entscheidungsebenen differenzieren können und «Feedforward» geben – im Sinne von Rückmeldungen zu antizipierten Auswirkungen (und, wie es der Feedforward-Begriff etwa von Marshall Goldsmith nahelegt, nicht zu Person und Verhalten). Behalten sie dabei die Entscheidungshoheit für die von ihnen selbst im Rahmen ihrer Möglichkeiten verantworteten Prozesse – in Kenntnis der für die Sicherung der Gemeinschaft relevanten Leitplanken –, steigt die Entscheidungsqualität auf allen Ebenen. In diesem Sinne wäre beispielsweise womöglich das Leben – und Sterben! – vieler Senioren in der aktuellen Pandemie-Situation anders verlaufen, wenn Mitarbeitenden und Leitungen von Altenheimen mehr vertraut worden wäre, unter Beachtung der als relevant erkannten Sicherheitsaspekte das Richtige zu tun.

Die klassisch hierarchischen Modelle, die mit operativen Sollvorschriften für nachgeordnete Ebenen arbeiten, taugen hier eher nicht: Auf funktionierende Selbstorganisation ausgerichtete Führung muss kommunikativ stark besetzen, welche Schlüsselkriterien am Ende relevant sind (Ausrichtung), was unterwegs nicht passieren darf (Leitplanken und Zusammenhänge) und welche Unterstützung gebraucht wird (Ressourcen). Das ist für viele Führungskräfte, die gern anweisen, was zu geschehen hat, ungewohnt. Neue Organisationsformate, die mit einer Verlinkung der Hierarchieebenen und Milieus sowie der Stärkung lösungsorientierter Bottom-up-Kommunikation arbeiten, sind hier eine Hilfe.

Partizipation und Geschwindigkeit

In disruptiven Prozessen kann «Acceleration» enorm wichtig werden. Wo schnelle Entscheidungen getroffen werden müssen, können für Beteiligungsprozesse digitale Tools zur Erhöhung der Geschwindigkeit sehr hilfreich sein. Die Qualität der Fragen ist dabei entscheidend: Bewertungen sind nur sinnvoll, wo Mehrheitsentscheide getroffen werden müssen. Fallen Entscheidungen im Cockpit, muss den Beteiligten deutlich vermittelt werden, dass sie Information geben, aber nicht mitentscheiden, denn «Scheinpartizipation» wird übel genommen. Kontinuierliche Feedback-Schleifen sind möglich und sichern Transparenz. Inhaltliche Information über faktische und erwartete Auswirkungen und Risiken von Entscheidungsoptionen (Feedforward) ist hilfreich und trägt zur Erhöhung der Entscheidungsqualität bei.

Resilienz

Individuelle Resilienz der Führungskräfte

In Krisen sind Führungskräfte noch mehr als sonst Anfeindung, Häme und Kritik bis hin zu massiven Beschimpfungen ausgesetzt, weil ihnen alle Nachteile in den Subsystemen angelastet werden. Die individuelle Resilienz der Person ist ein Leadership-Aspekt, der in Krisen deshalb besonders wichtig wird: Wer selbst schnell verzweifelt, allzu kränkbar und anerkennungsbedürftig oder emotional instabil ist, kann negative Projektionen anderer nicht ertragen und nimmt die Dinge zu persönlich. Eitelkeiten, persönliche Abhängigkeiten und Statusdünkel sind inkompatibel mit den Anforderungen, ganz besonders aber narzisstische Störungen, die zu Allmachtsfantasien und Beratungsresistenz führen. Soziale Unterstützung für die Führung besteht in Krisen darin, die Beratung durch Experten hochzufahren, individuelle Verantwortung auf dieser Basis einzugrenzen und die Belastbarkeit der Führung zu erhöhen. Das gilt auch für die Mitarbeitenden, die in der Haltung bestärkt werden müssen, ihre Führungskräfte zu tragen und bestmöglich «bottom-up» zu kommunizieren, statt Feindbilder zu kultivieren und permanent zu kritisieren. Leider tragen an dieser Stelle die in nahezu in allen Unternehmen als Feedback-Kulturen getarnten gemeinschaftsschädigenden Kritik- und Bewertungssysteme in keiner Weise zur konstruktiven Kommunikation bei. Führungskräfte wie Mitarbeitende brauchen viel Resilienz, um hinter unproduktiven Rückmeldungen zur Person den ungelösten Bedarf in der Sache auszumachen und damit umzugehen. Gelingt ihnen das, bleiben sie persönlich stabiler und handlungsfähiger.

Suchprozesse und Querdenken

Lösungen aus der Krise zu finden – seien es veränderte Arbeitsprozesse, veränderte Geschäftsprozesse, Notfallstrategien oder ganz konkrete Fragestellungen –, erfordert Denk-Mut. In Krisen geht es darum, Suchprozesse für Lösungen massiv zu unterstützen und alles anzunehmen, was es besser macht. Jede wirkliche Lösung ist im Kern innovativ und beinhaltet einen Konventionsbruch. Die Corona-Pandemie zeigt, dass vieles möglich ist, was zuvor undenkbar erschien. In vielen Bereichen wurden Vorbehalte gegenüber mobilem Arbeiten vom Tisch gefegt. Die angeblichen Vorteile von Arbeitsplätzen, die Menschen in Räume zusammenzwingen, werden in Frage gestellt. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, wofür körperliche Anwesenheit wirklich erforderlich ist und an welchen Stellen digitale Kommunikation eine völlig andere Qualität braucht. In manchen Bereichen werden Geschäftsprozesse auf den Kopf gestellt, wo enges Miteinander zuvor entweder durch Prozesse oder Produkte geprägt wurde. Der gesamte öffentliche und private Bildungssektor, die Kultur- und Unterhaltungsbranche, Gastronomie, Sport und viele andere Branchen müssen um ihre Existenz bangen, wenn kreative Durchbrüche ausbleiben. Am Ende stellt sich die Frage nach radikalem Wandel nicht nur in den Subsystemen – denn wo die Ökobalance einer Branche nicht gewahrt werden kann, geht es um mehr als um das Überleben einer einzelnen Organisation.

Organisationale Resilienz

Die Schlüsselkriterien für «gesundes Führen», aber auch für individuelle und organisationale Resilienz lassen sich auf verschiedenen Handlungsebenen identifizieren. Die Kategorie «Sinn» umschreibt dabei stets die überlebensrelevante erfolgreiche Anpassung an die Systemumgebung. Organisationen, deren Existenzgrund Sinn ergibt, die sich rasch an die Systemumgebung anpassen können, die eine gute und enge Kundenbindung aufweisen, deren Strategien radikal lösungsorientiert und zukunftsgewandt sind, dürften bessere Überlebenschancen haben. Es erfordert ein Umdenken und ein Umorganisieren der Führung, wenn tief verstanden wird, dass dabei mehr «von außen nach innen» als «von oben nach unten» gedacht werden muss. Kompetenz im Sinne von Lernfähigkeit nicht nur auf individueller, sondern auf organisationaler Ebene in diesem Sinn zeichnet die «lernenden Organisationen» aus. Die Sicherung (überlebens-)relevanter Basisprozesse und eine stabile Arbeitsdisziplin sowie Zugang zu relevanter Information sind entscheidend für das Durchhaltevermögen in kritischen Situationen.

« Es reicht nicht, sich betulich um das Wohl des Einzelnen zu kümmern. »

Für Organisationsentwickler und Führungskräfte stellt sich dabei immer wieder die Frage, wie die Balance zwischen individueller und kollektiver Überlebenssicherung hergestellt werden kann und wie Grabenkämpfe und individuelle Vorteilsnahme zugunsten von Zusammenhalt und Stärkung der Gemeinschaft vereitelt werden können. Es reicht nicht, sich betulich um das Wohl des Einzelnen zu kümmern – die Bereitschaft, Eigeninteressen zugunsten der Gemeinschaft zurückzustellen, muss im Gegenteil stark mobilisiert werden. Ein alter Begriff kann dabei helfen: Solidarität. Solidarität ist nicht Märtyrertum, sondern aktives Bemühen um Kompensation an den Stellen, wo die meisten Nachteile entstehen. Empathie für andere und für die Gemeinschaft als Ganzes ist Voraussetzung für solidarischen Ausgleich. Dabei geht es nicht um ein «Gefühl», sondern um die kognitive Leistung der Perspektivübernahme und den Abbau narzisstischer Selbstbezüglichkeit. Diese Qualität geht in Kulturen verloren, in denen man sich in gegenseitiger Bespiegelung und Bewertung ergeht, statt die inhaltliche Kommunikation von Auswirkungen zu fördern. Wenn der Austausch von Fremdbildern zum Verhalten oder zur Person eingefordert wird und obendrein ein Framing als «Feedback» erfährt, wird Perspektivübernahme regelrecht verlernt – stattdessen breitet sich überhebliche Anmaßung bei innerer Unsicherheit aus. Die aktuelle Situation ist ein Lernfeld für eine deutlich veränderte milieuübergreifende Kommunikation. In andere Welten hineinschauen und sich um die Auswirkungen des eigenen Handelns zu kümmern, erscheint zukunftsweisender als die Verteilung von «Likes». Dabei geht es nicht darum, alles zu tolerieren. Im Gegenteil können gemeinschaftsschädigende Auswirkungen individueller Verhaltensmuster viel legitimer – nämlich über die Auswirkungen – thematisiert und im Zweifel auch sanktioniert werden. Auch kann bei aller Würdigung von «Zumutungen» relativiert werden: Denn verglichen mit möglichen und bekannten Katastrophen – man denke nur an Krieg und Vertreibung – erscheinen viele Zumutungen der Corona-Pandemie verkraftbar.

Wer sich auf dieses Verständnis von Empathie einlässt, wird sofort mit dem Thema Verantwortung konfrontiert. Sich mehr für die Auswirkungen des eigenen Handelns auf andere zu interessieren als für die selbstbezüglichen Fragen, wie man sich gerade fühlt, ob man wertgeschätzt wird oder wie man bei anderen ankommt, ist ein anspruchsvolles ethisches Programm. Nicht nur auf individueller, sondern auch auf organisationaler Ebene verweist dieses Programm auf die Verantwortungsübernahme nicht nur für sich selbst und das unmittelbare Subsystem, sondern auch für die Systemumwelt und das Kommende. Fehlt dies, verkommen Begriffe wie «Nachhaltigkeit» zur Sprechblase für Moralisten und selbsternannte «Wertegemeinschaften». Denn Konnektivität auf dieser Ebene erfordert die aufrichtige und deshalb oft schmerzhafte Auseinandersetzung mit Neben-, Rück- und Fernwirkungen des Handelns auf allen Seiten. Die beteiligten Menschen zu schonen und gute Absicht zu unterstellen, ohne die eigenen Absichten mit den Ergebnissen zu verwechseln, schützt und entspannt die ernsthafte Kommunikation über diese Auswirkungen. Das macht ökologisch verantwortliches Handeln am Ende aus – und Lösungen wahrscheinlicher. Für die nächste Generation, für eine für alle lebenswerte Zukunft.


Dies ist ein Essay, der von Dr. Martina Rummel für die Schriftenreihe «Denkpausen» verfasst hat. Sie ist Trainerin, Beraterin und Coach für Leadership und Change Management an der Management School St.Gallen.

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