Vom Kollegen zur Führungskraft

Ein Beitrag von Koen Hazewinkel, Anna-Leena Haarkamp und Prof. Dr. Utho Creusen

Mit der Digitalisierung eilt nicht nur der technische Fortschritt voran. Auch die Bedürfnisse der Beschäftigten und der Kundschaft ändern sich rasant. Die Märkte werden immer komplexer. Organisationen und ihre Führungskräfte müssen nun rasch umdenken: Vibrant Leadership fördert Mitarbeitende und macht Führung dynamisch, um sie über das ganze Unternehmen zu verteilen.

Die digitale Transformation ist ein tiefgreifender Wandel unserer Geschäfts- und Lebenswelt, unausweichlich und unumkehrbar. Mit welch enormer Geschwindigkeit die Entwicklung heute voranschreitet und wie schnell die Durchsetzungsrate neuer Technologien steigt, stellt Führungskräfte und Mitarbeitende vor völlig neue Herausforderungen. Wie sollen sie mit der Veränderungsdynamik umgehen und mit der Unsicherheit, die daraus resultiert? Denn neue Technologien wie Blockchain, das Internet der Dinge, Robotics, künstliche Intelligenz (KI) und zukünftig sicher Quantum Computing ermöglichen nicht nur die Digitalisierung gewohnter Prozesse und Abläufe, sondern führen vor allem zu völlig neuen Wertschöpfungslogiken, neuen Formen der Kundenansprache, Vertriebskanälen und Geschäftsmodellen und damit letztlich auch zu völlig neuen Wettbewerbern. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die Plattformökonomie, die eine neue Form des Wirtschaftens ermöglicht. Ein bekanntes Beispiel ist Uber, eine Business-to-Customer-Plattform, die Fahrer:innen mit ihrem Dienstleistungsangebot und Fahrgäste direkt zusammenbringt und die Abwicklung der Transaktion übernimmt. Dadurch entsteht nicht nur ein völlig neues Geschäftsmodell, sondern Uber tritt auch als neuer Wettbewerber für Taxiunternehmen auf.

Diese veränderten Marktbedingungen haben enorme Auswirkungen auf die Art und Weise, wie wir Unternehmen führen und wie Führung verstanden wird. Doch neben den technologischen Entwicklungen ist es auch der demografische und gesellschaftliche Wandel, der zur zentralen Herausforderung für Führungskräfte wird. Eine immer stärker alternde Mitarbeiterschaft, fehlende Fachkräfte und eine gute wirtschaftliche Lage führen dazu, dass sich der Arbeitsmarkt von einem Arbeitgeber- zu einem Arbeitnehmermarkt wandelt. Die Bedürfnisse der Arbeitnehmer:innen rücken dadurch zunehmend in den Vordergrund: Menschen aus allen Generationen wünschen heute Individualisierung, Flexibilisierung sowie Sinnstiftung und Selbstverwirklichung im Job. Führungskräfte sind dadurch zusätzlich gefordert.

Wir müssen die Geschwindigkeit beim Denken und Handeln deutlich erhöhen

Wie John Kotter in seinem neuesten Buch (Kotter et al., 2021) so treffend beschreibt, nehmen aufgrund der Digitalisierung unserer Gesellschaft die. Geschwindigkeit, aber auch die Komplexität der Geschäftsabläufe ständig zu. Sprachen wir vor nicht allzu langer Zeit noch von Wachstum, fordern wir heute in der digitalen Welt und bei digitalen Scaleups «exponentielles Wachstum». Und wenn man dies als Scale-up nicht nachweisen und glaubhaft prognostizieren kann, wird es sehr viel schwieriger, zusätzliches Kapital zu erhalten. Ähnlich wie bei Booking.com oder Takeaway.com wird Unternehmen wie Gorillas und Better.com innerhalb weniger Jahre eine internationale Marktdominanz vorausgesagt, mit einem damit verbundenen Marktwert. 

Eine direkte Konsequenz dieser zunehmenden Geschwindigkeit und Komplexität sind wachsende «Gefühle» der Unsicherheit. Der «World Uncertainty Index» weist seit Jahren eine exponentielle Trendlinie auf. Der Wandel in der Wirtschaft hat grundlegende Konsequenzen für Organisationen und ihre Führung. Um der zunehmenden Volatilität produktiv begegnen zu können, müssen Organisationen ihre eigene Denk- und Handlungsgeschwindigkeit sowie ihre Anpassungsfähigkeit drastisch erhöhen. Neben den klassischen hierarchischen Strukturen und Verfahren, die vor allem Stabilität ermöglichen, müssen Organisationen Formen der Agilität und Geschwindigkeit entwickeln. In diesen agilen Organisationsformen verlagert sich der organisatorische Schwerpunkt auf selbst organisierte, crossfunktionale Teams. Darin konzentriert sich die Art und Weise, wie Menschen interagieren und zusammenarbeiten, auf die jeweilige Aufgabe, meist die Lösung eines konkreten Kundenproblems, und auf die Verantwortung bei der Bewältigung dieser Aufgabe.

Dies steht im Gegensatz zu traditionellen Organisationsformen, die auf Hierarchie und funktionalen Abteilungen beruhen. Teambasierte Organisationsformen erfordern einen starken Fokus auf Wissen und Kompetenz. Darüber hinaus bedarf es einer Kultur, in der Fehler Teil des Lernprozesses sind. Außerdem wichtig sind Umgang mit Ungewissheit, Schnelligkeit im Denken und Handeln, das Arbeiten mit realisierbaren Optionen anstelle von Ideallösungen und eine Entscheidungsbefugnis, die an Wissen und nicht an Hierarchie gebunden ist. Wissen und Können anstelle von Positionen – das sind Organisationsprinzipien, die in einem zunehmend dynamischen Kontext wesentlich sind. Diese Eigenschaften sind jedoch nicht unbedingt in unseren klassischen tayloristischen Organisationsprinzipien verankert. Und das hat enorme Auswirkungen auf unser Führungsmodell und -verhalten.

« Es geht um eine erhöhte Geschwindigkeit im Denken und Handeln, flexible, interdisziplinäre Teams und aufgabenorientierte Organisationsmodelle »

Historisch gesehen verbinden wir Führung mit einer Position in einer hierarchischen Organisation, und Führung steht dann an der Spitze der Hierarchie. In einem komplexen, sich wandelnden Umfeld müssen wir zu einem viel dynamischeren Verständnis von Führung übergehen und sie als beweglich, fließend und situationsabhängig betrachten. Führung liegt dann bei der Person, die am besten weiß, wie eine komplexe Situation kompetent zu bewältigen ist. In diesem Sinne ist auch die Führung im digitalen Wandel in hohem Maße informell und beruht auf informeller Autorität, die sich auf Wissen und Kompetenz gründet. Es geht um eine erhöhte Geschwindigkeit im Denken und Handeln, flexible, interdisziplinäre Teams und aufgabenorientierte Organisationsmodelle. Dies alles ist Teil von Vibrant Leadership.

Spitzenleistung ist nur möglich, wenn der Mensch im Zentrum steht

Die digitale Transformation hat also zur Folge, dass wir die Führungsaufgabe situativ mit der jeweils passenden Person oder den passenden Personen innerhalb unserer Organisation verbinden. Dieser moderne, oft hoch qualifizierte Experte braucht nun einen anderen Führungsstil: eine authentische Führung, bei der sich Menschen auf Augenhöhe begegnen und gleichwertig miteinander interagieren. Diese Führung zeigt sich offen und agil, lernt dazu, konzentriert sich auf Stärken, um diese auszubauen, ist menschlich und inhaltsorientiert. Daher erfordert die digitale Transformation ein Coaching-Leadership-Konzept, bei dem die Führungskraft Teams begleitet, unterstützt und befähigt – im Unterschied zur Instruktion und Kontrolle. Die Führungskraft stellt Fragen und ist in der Lage, den Beiträgen von Mitarbeitenden, die Wissen mitbringen, aufmerksam zuzuhören. Und sie vermag, die Rahmenbedingungen zu schaffen, die Einzelne dazu befähigen, bestmöglich zu arbeiten.

In diesem Sinne baut dieser neue Begriff von Führung auf Ideen aus der Positiven Psychologie auf. Den Begriff «Positive Psychologie» hat der amerikanische Psychologe Abraham Maslow 1954 erstmals verwendet, in den 1990er-Jahren fand er durch den amerikanischen Psychologen Martin Seligman breite Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zur traditionellen, defizitorientierten Psychologie befasst sich Positive Psychologie mit den positiven Aspekten des Menschseins. Es geht darin etwa um Glück, Optimismus, Geborgenheit, Vertrauen, individuelle Stärken, Verzeihen (Vergebung) oder auch Solidarität.

« Wie begegnen wir der Gefahr, dass der Mensch hinter der Technologie verschwindet? »

Aber es gibt noch einen weiteren Grund, warum die menschliche Perspektive, der menschliche Fokus und die menschliche Dimension so wichtige Aspekte von Führung in der digitalen Transformation sind. Mit dem zunehmenden Automatisierungsgrad in unseren Unternehmen, bei dem Prozesse und mittlerweile auch Entscheidungen vollständig dem Computer, der KI, überlassen werden, besteht die große Gefahr, dass wir den Menschen als Organisationskapital aus den Augen verlieren, nach dem Motto: Technologie an der Spitze, Mitarbeitende als anonyme Ressourcen. Mit der fortschreitenden Digitalisierung droht daher eine weitreichende Form der Anonymisierung, der Dehumanisierung. Und dies ist auch heute bereits zu beobachten. Gorillas und Better.com sind gute Beispiele dafür, wohin die Entmenschlichung führen kann. So entließ der CEO von Better.com voriges Jahr 900 Mitarbeitende in einer Zoom-Sitzung. Dazu muss man wissen: Better.com, 2016 gegründet, ist eine Plattform für Hypothekenmakler. Der geschätzte Wert des Unternehmens beträgt sieben Milliarden, sein Gründer ist Milliardär. Beim Lieferdienst Gorillas wurden kürzlich 200 Mitarbeitende entlassen, als sie sich für bessere Arbeitskonditionen einsetzten. Ähnliches gibt es auch aus anderen Start-ups wie Uber oder WeWork zu berichten.

Wie begegnen wir der Gefahr, dass der Mensch hinter der Technologie verschwindet? Als Gegengewicht brauchen wir eine Führung, die sich nicht nur auf die Kunden und die Wertschöpfung konzentriert, sondern auch auf die Mitarbeitenden. Der Mensch als Kapital, nicht als Ressource. Die digitale Transformation erfordert eine Führung, die unsere Lebensqualität verbessert und nicht verschlechtert. Auch hier bildet die Positive Psychologie die wissenschaftliche Basis.

Die vielfältigen Anforderungen an eine Führungskraft sind durch eine Person nicht mehr zu leisten

In der Rolle der Führungskraft gilt es in einer immer digitaler und komplexer werdenden Wirtschafts- und Lebenswelt:

  • visionär Bilder der Zukunft zu zeichnen, dies in eine Strategie und Ziele zu übersetzen und das Team für die Mitarbeit daran zu begeistern und mitzuziehen,
  • zu planen und zu organisieren, damit Zuständigkeiten, Prozesse und Prognosen stimmig sind,
  • die richtigen Fragen zu stellen, um das Team in der Ausarbeitung der Themen zu unterstützen,
  • sich fachlich auf dem Laufenden zu halten,
  • Mitarbeitende zu befähigen, zu coachen und in ihrer fachlichen sowie persönlichen Entwicklung zu unterstützen, damit sie sich bestmöglich einbringen, entfalten und mit dem Unternehmen verbinden können, und das nach Möglichkeit höchst individuell, auf die Art und Weise, wie es die oder der Einzelne am besten annehmen kann.

Aber wer vereint schon gleichzeitig die Eigenschaften eines Leaders, eines Managers und eines Coachs zu 100 Prozent in sich? Es lässt sich sicherlich kühn behaupten: keiner. Denn niemand kann alles gleich gut, wir haben alle unsere Stärken und Schwächen. Um jedoch maximal schnell und innovativ in einem dynamischen Markt agieren zu können, sind wir darauf angewiesen, denjenigen einzusetzen, der für das jeweilige Thema die meiste Kompetenz hat. Ein Mittelmaß, mit dem wir alles ein wenig abdecken, können wir uns nicht mehr erlauben. Führungsaufgaben sollten daher nicht mehr nur an einer Stelle oder Position und damit auch bei einer Person verortet werden, sondern vielmehr aufgeteilt in Rollen gedacht werden, die von den Personen erfüllt werden, die in dem jeweiligen Thema eine Stärke und daran Interesse haben.

Zudem hat jedes Leben unterschiedliche Phasen. Es gibt Zeiten, in denen man sich besonders stark im Job einbringen kann und will, und Perioden, in denen andere Dinge im Vordergrund stehen, zum Beispiel die Geburt des ersten Kindes, die Pflege von Angehörigen oder einfach eine Interessenverschiebung, die anderes für den Moment wichtiger werden lässt. Wenn es das Ziel ist, stets die passendsten, schnellsten und kreativsten Ergebnisse zu erzielen, dann kann dies nur gelingen, wenn es die Lebenssituation zulässt und genug Ressourcen zur Verfügung stehen. In diesem Kontext muss die Übernahme von Führungsverantwortung viel dynamischer und fluider gesehen werden. Es muss möglich sein, Führungsrollen anzunehmen und diese ganz natürlich auch wieder abgeben zu können, ohne dass dies zum «Karriere-Killer» wird.

« Ein Mittelmaß, mit dem wir alles ein wenig abdecken, können wir uns nicht mehr erlauben »

Führungskräfte werden viel produktiver sein, wenn sie sich genau dort und nur dort als Führungskraft einbringen, wo sie aufgrund ihrer Stärken und zur Verfügung stehenden Ressourcen dazu in der Lage sind. Auch muss es möglich sein, im Sinne des Ganzen ganz selbstverständlich «das Feld zu räumen», wenn dies nicht der Fall ist, und somit Führung als fluiden, ganz natürlichen Prozess zu sehen. Dieses situativ anpassungsfähige Führungsverständnis gewinnt insbesondere dann zusätzlich an Bedeutung, wenn wir wie oben beschrieben von einer immer länger werdenden Lebensarbeitszeit, einem sich weiterhin verschärfenden Fachkräftemangel und dem laufenden Wertewandel in unserer Gesellschaft ausgehen, der nach mehr Sinnstiftung und Sinnhaftigkeit im Job fragt.

Doch wenn wir diesen Gedanken weiterspinnen, was bedeutet dann eigentlich «Karriere» in einer modernen Arbeitswelt? Wenn Karriere nicht mit einem Aufstieg in der Pyramide verbunden ist, was ist sie dann? Wonach sollten wir befördern? Wenn wir die Führungsverantwortung auf verschiedene Personen verteilen, was bedeutet das für die Gehaltsstruktur? Verdient dann jeder mehr, abhängig davon, wie viele Führungsrollen er übernimmt? Und was, wenn Führungsverantwortung nicht dauerhaft, sondern temporär übernommen wird? Variiert dann auch das Einkommen abhängig davon? Das sind spannende Fragen, die einer weiteren Diskussion bedürfen. Auf alle Fälle zeigen sie, welche Komplexität durch Flexibilität entstehen kann.

 


Dies ist ein Essay, der in der Zeitschrift «Wirtschaftspsychologie aktuell» erschienen ist und mit Genehmigung der Redaktion und der Autoren im Newsroom der Management School St.Gallen veröffentlicht wird. 
Prof. Dr. Utho Creusen ist der Program Director für den Kompetenzbereich «Digital Leadership & Transformation» bei der Management School St.Gallen. Im Angebot sind Impulstage, Seminare, kombinierte Programme und Lehrgänge sowie kundenspezifische Corporate Veranstaltungen.

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